vierdimensionales Netz / Warum Hierarchie nicht mit Komplexität umgehen kann

Warum Hierarchie nicht mit Komplexität umgehen kann

Mittlerweile ist das ein Teil unseres Arbeitsalltags: Führungskräfte sind hoffnungslos überlastet. Jede Entscheidung die mehr Koordination und eine vom Alltag abweichende Sichtweise erfordert, muss von ihnen genehmigt werden. In hierarchischen Organisationen laufen die Reporting-Wege nur an der Spitze zusammen. Sehr oft stehen Führungskräften dafür nur wenige oder sehr stark verschlankte Informationen und Fakten zur Verfügung. Kein Wunder also, dass sich viele Führungskräfte bei dieser Form der Entscheidungsfindung unsicher und ängstlich fühlen. Wie Arbeiter am Fließband müssen sie irgendeine Entscheidung treffen und die nächste Entscheidung wartet bereits. Kommen sie dabei in Verzug droht dem Unternehmen der Stillstand. Es ist daher wenig überraschend, dass Führungskräfte die am stärksten unter Burnout[1] leidende Berufsgruppe stellen. Gemessen an Arbeitsunfähigkeitstagen aufgrund einer Burnout-Erkrankung liegen Führungskräfte mit durchschnittlich 50% mehr Ausfalltagen deutlich vor jeder anderen Berufsgruppe.

Der Engpass an der Unternehmensspitze macht die Zeit von Führungskräften so kostbar, dass sich Mitarbeiter oft wochenlang auf eine kurze Präsentation vorbereiten. Zahlreiche drängende Entscheidungen bekommen aber nie einen Termin und werden deshalb auch nicht getroffen. Andere, an der Spitze getroffene Entscheidungen, erweisen sich als schlecht oder sogar schädlich. Dabei spielen politische Überlegungen ebenso eine Rolle wie Unkenntnis der operativen Geschehnisse und Bedürfnisse vor Ort.

In einer zunehmend komplexeren Welt wird die Hierarchie zu einem Engpass. Selbst wenn die Führungskräfte noch mehr Zeit investieren, das Problem kann nicht durch Arbeitszeit gelöst werden. Es handelt sich vielmehr um ein strukturelles Problem.

Was also sind die Alternativen?

Die Lösung umgibt uns bereits! Alle adaptiven komplexen Systeme[2] - davon gibt es einige[3] - arbeiten nach einer Struktur der verteilten Autorität. Kein einziges komplexes System arbeitet mit hierarchischen Strukturen. In der Evolution solcher Systeme hat sich gezeigt, dass Hierarchie zunehmender Komplexität nicht standhält.

Die hierarchische Organisation hat ausgedient

Hierarchische, leistungsorientierte Organisationen sind in einem mehr oder weniger starren System von Regeln, Vorschriften, Verantwortlichkeiten, Abläufen und Rollen gefangen. Sie arbeiten seit jeher mit den immer gleichen wiederkehrenden Lösungsstrategien, unabhängig von der Art des Problems. Die antrainierten Reflexe, komplexe und völlig neuartige Probleme - in deren Lösung die Organisation keine belegte Erfahrung hat - mit Denkweisen und Lösungsstrategien, die sich in der Vergangenheit bewährt haben, zu begegnen führt immer häufiger zu ungelösten Problemsituationen.

Diese an und für sich schon nicht sehr erfreuliche Perspektive wird durch neue, sich stetig verändernde, Erwartungshaltungen weiter verschärft. Branchenunabhängig werden Unternehmen mit Anforderungen nach kürzeren Durchlaufzeiten, höherer Kundennähe, zunehmenden Produktvielfalt, kurzlebigeren Produktentwicklungszyklen konfrontiert. Damit einhergehend steigt der Innovationsdruck auf die Unternehmen und die Notwendigkeit einer wachsenden digitalen Aufrüstung gewinnt tagtäglich an Dringlichkeit. Jede einzelne dieser Anforderungen stellt die meisten Organisationen bereits vor große Herausforderungen.

Die Kombination dieser Entwicklungen führt jedoch zu einem teilweise dramatischen Komplexitätsanstieg, der für viele Unternehmen, mit herkömmlichen Lösungs- und Denkansätzen, nicht mehr beherrschbar ist.

Unternehmensentwicklung bedeutet vor allem eines: Krisenbewältigung

Letztendlich werden diese Anforderungen an die Unternehmensprozesse herangetragen, die dadurch immer stärker in Konflikt mit ihrer hierarchisch ausgerichteten Aufbauorganisation kommen. Warum? Hierarchische, arbeitsteilige und nach Leistungsprinzipien geführte Organisationen können den sich stetig verschärfenden Konflikt, immer mehr Entscheidungen in immer kürzerer Zeit zu treffen und die notwendigen Anpassungen an unternehmensweiten Wertschöpfungsketten vorzunehmen, nicht mehr auflösen. Eine teilweise existentielle Krise ist damit vorprogrammiert.

Das vorherrschende System kann die Probleme, die zu dieser Krise geführt haben, nicht mehr lösen. Unternehmen, die vor einer solchen Herausforderung stehen, bieten sich zwei Herangehensweisen: Das Unternehmen kann versuchen das Problem weiterhin zu ignorieren (das geht dann oftmals mit dramatischen Kostensenkungs- und Rationalisierungsprogrammen einher) oder versuchen in eine neue komplexere Perspektive hineinzuwachsen, welche der Organisation neue Lösungen für das Problem eröffnet.

Prozesse erwirtschaften die Erlöse, die Aufbauorganisation verwaltet die Kosten

Gewöhnen wir uns ruhig an den Gedanken: Die Prozesse erwirtschaften die Erlöse, die Aufbauorganisation verwaltet die Kosten. Dieser Gedanke trägt immense Sprengkraft in sich, folgen doch zwei wesentliche Einsichten daraus:

Erstens braucht es einen Paradigmenwechsel, in dem die Organisation nicht mehr mit sich selbst beschäftigt ist und sich an Kostenstrukturen abarbeitet, sondern sich verstärkt an den Prozessen ausrichtet. Zweitens liegt der Gedanke nahe, dass dieser Konflikt sich letztlich nur durch eine Weiterentwicklung der Organisation auf eine neue Evolutionsstufe auflösen lässt. Die in solch einer zukünftigen Organisation vorherrschenden Leitbilder werden vorwiegend Eigenverantwortung, Selbstorganisation, individuelle Entfaltung, ein neues Selbstverständnis von Führung und Selbstverwirklichung sein. Mit diesen Zutaten wird es möglich, Entscheidungen dort zu treffen, wo sie operativ entstehen, brachliegendes kreatives Potential zu nutzen und schnell und flexibel auf Veränderungen zu reagieren. Die Hierarchie wird an Bedeutung verlieren.

Aber eines ist auch klar. Für Veränderung gibt es keinen Blueprint, kein Template. Viel zu oft versuchen Unternehmen Veränderungen in ein Projekt mit begrenzter Laufzeit und vorgegebener Zielrichtung zu pressen. Ebenfalls sehr beliebt ist der Versuch Veränderungen durch Einführung neuer Tools oder Methoden gar zu erzwingen. Die schlechte Nachricht ist, so funktionieren Veränderungsprozesse nun mal nicht. Veränderung ist für jedes System (und Ein Unternehmen ist ein solches) ein individueller und stetiger Prozess.

Die simple Antwort ist einfach der Organisationen die nächste Methode, das nächste Tool überzustülpen. Etwas salopper formuliert: „Wieder einmal die nächste Sau durchs Dorf zu treiben.“ In vielen Fällen ein Scheitern mit Ansage.

Wenn Eigenverantwortung und Selbstorganisation in einer Organisation zunehmen, werden zwangsläufig die Prozesse gestärkt

Was also können Unternehmen tun? Wo können sie mit der Veränderung beginnen? Es existieren meist so viele Möglichkeiten Veränderungen herbei zu führen, dass einige Organisationen bloß durch die Beantwortung dieser Frage in ihren Handlungen gelähmt werden. Der Wirtschaftsexperte und Management Vordenker Peter Drucker hat dazu einmal gesagt

„Culture eats strategy for breakfast“.

Übertragen auf die Frage, wo Unternehmen mit Veränderung beginnen sollen, bedeutet das auf die inneren Stimmen der Organisation zu hören: Für welche Veränderung existiert die meiste Energie im Unternehmen? Wo gibt es blockierte Energien? Für die einen ist das die Verkürzung überdehnter und langwieriger Entscheidungswege, beispielsweise den Mitarbeitern das Vertrauen auszusprechen selbst Entscheidungen treffen zu können. Für andere mögen es sinnstiftende Arbeiten sein oder durch Mitarbeit an einer großen Aufgabe an Bedeutung zu gewinnen. Freundet man sich mit der Vorstellung an, dass Veränderung als mehr oder weniger kontinuierlicher, stetiger Prozess abläuft, ist es schließlich bedeutungslos, wo man beginnt. Wichtig ist nur, dass Veränderung mehr Energie freisetzen muss als dafür aufgewendet wird. Ähnlich einem Schneeball, der zunächst unscheinbar und langsam den Berg hinunterrollt und dabei immer schneller und größer wird.

Klingt einfach! Warum folgen dann so wenige Organisationen diesem Ansatz? Hierarchische Unternehmen sind traditionell stark auf die Vorgabe von Zielen und deren Kontrolle ausgerichtet. In diesen Organisationen ist dieses Denken stark kulturell verankert und verhindert dadurch reflexartig jede nicht sofort auf ein vorgegebenes und autorisiertes Ziel ausgerichtete Veränderung. Für viele Unternehmen hat das eher eine chaotische und anarchische Anmutung.

Verschwindet die Hierarchie treten die Prozesse in den Vordergrund

Was aber geschieht in Organisationen, die den Einfluss ihrer Aufbauorganisation relativieren, in denen Mitarbeiter mehr und mehr die Verantwortung übernehmen? Spielen wir den Gedanken einmal an einem Extrembeispiel durch. Wir entfernen in unserem Beispielunternehmen die Aufbauorganisation. Mitarbeiter machen einfach das was sie auch vorher gemacht haben, nur dass sie nun ihre Entscheidungen selbst treffen und dafür verantwortlich sind. In dieser Organisation wird sich nun jeder Mitarbeiter vielmehr daran orientieren wer ihm zuarbeitet und an wen er wiederum seine Zuarbeit richtet. Der Ablauf der Wertschöpfung gewinnt an Bedeutung. Die Prozesssicht wird gestärkt und auch das Bewusstsein für das Ergebnis des Prozesses gemeinsam verantwortlich zu sein.

Fazit

Unternehmen haben sich so sehr an ihre Sesshaftigkeit gewöhnt, dass sie angefangen haben Unbeweglichkeit mit Sicherheit zu verwechseln. Dabei liegt es in der Natur des Menschen in Bewegung zu bleiben und sich zu verändern, wenn es an der Zeit ist.

Das soll nun kein Plädoyer für die Abschaffung der Aufbauorganisation sein, vielmehr eine Anregung ihr eine andere Ausrichtung zu geben: Weg von Kontrolle, hin zu Vertrauen und Selbstverantwortung.

Nur Organisationen, die es zustande bringen diesen nächsten Evolutionsschritt zu gehen, wird es gelingen das volle Potential ihrer Wertschöpfungskette abzurufen und auf zukünftige Veränderungen schnell und resilient zu reagieren.

 

[1] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/507553/umfrage/berufsgruppen-mit-hohen-fehlzeiten-aufgrund-von-burn-out-erkrankungen-nach-falldauer/

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Komplexes_adaptives_System

[3] Beispiele für adaptive komplexe Systeme: Biosphäre, Ameisenkolonien, Ökosystem, Gehirn, Immunsystem, Zellen


eine Person trägt über Kopf und Oberkörper ein Papierkarton, auf dem ein Roboter aufgemalt ist / RPA - Übernehmen digitale Mitarbeiter das Steuer?

Robotic Process Automation - Übernehmen digitale Mitarbeiter das Steuer?

In den letzten zwanzig Jahren haben sich die Kommunikationsmöglichkeiten zwi­schen Kunden und Unternehmen dramatisch vervielfacht. Neben E-Mails, dem Inter­net, sozialen Plattformen, Smartphones, Tablets, der Cloud, dem Internet der Dinge (IoT - Internet of Things) existieren ebenfalls die immer noch altbekannten Kommunikationsmittel wie Dokumente, Dateien, Briefe oder Faxe. Diese Kommunikationsmittel (Abbildung 1) sind oft miteinander verbunden, aber nicht immer miteinander kompatibel.

Abb. 1: Vernetzung von Anwendungen und Kommunikationsmitteln; Quelle: Eigene Darstellung

Ständig müssen Routineprozesse wie die Prüfung von Datensätzen, das Erstellen von Berichten oder auch das Anlegen von Kunden- und Lieferantendaten durchgeführt werden. Die zunehmende Vernetzung oftmals inkompatibler Anwendungen führt dadurch zu hohen Transaktionsvolumina. An vielen Stellen geschieht diese Vernet­zung nach wie vor manuell durch menschliche Bearbeiter (siehe Abbildung 2).

Abb. 2: Vernetzungsdruck führt zu hohen Transaktionsvolumina; Quelle: Eigene Darstellung

Robotic Process Automation (RPA) als Alternative zu traditionellem Business Process Outsourcing

Die Entwicklung, Pflege und Programmierung von Schnittstellen sind oft teuer. Skripte oder Makros eignen sich meist nur für Einzelfälle. Das Outsourcing in Niedriglohnlän­der wiederum wird durch erhöhte Koordination und Kommunikation erschwert und bringt zudem das Problem der Zeitverschiebung mit sich. Darüber hinaus führt es regelmäßig zu Know-how- und Reibungsverlusten (nicht nur in der einmaligen Transi­tionsphase, sondern auch während des normalen Betriebs durch die sehr hohe Fluk­tuation in den Outsourcing-Ländern). Dies fördert Fehler und beeinträchtigt die Qua­lität der Prozessleistung und Prozessergebnisse.

Diese Ausgangssituation hat in letzter Zeit sehr stark das Aufkommen einer »neuen« Technologie im Werkzeugkoffer der Prozessoptimierung begünstigt: Robotic Process Automation. Im Kern handelt es sich um die Automatisierung von Vorgängen, die sich durch ein sehr hohes Maß an wiederkehrenden manuellen Arbeitsschritten aus­zeichnen. Roboter, sogenannte »Bots«, übernehmen eins zu eins die Tätigkeiten eines menschlichen Bearbeiters.

Beispiele dafür sind der Eintrag von per E-Mail eingegangenen Bestellungen in ein Bestellsystem oder das Ausfüllen von Formularen diverser Backoffice-Prozesse. Hier­bei handelt es sich aber nur um eine scheinbare Prozessoptimierung. Der Prozess an sich erfährt dabei keine Änderung, es findet lediglich eine Übertragung von Arbeit auf einen Roboter statt, die zuvor ein Mensch geleistet hat. Diese Roboter sind weder mit Sensoren noch mit Greifarmen ausgestattet. Sie sind für das Auge unsichtbar. Die Roboter, die im Büro ihren Dienst versehen, sind ein mehr oder weniger intelligentes Stück Software.

Wie innovativ ist Robotic Process Automation wirklich?

Nun, wirklich neu ist die Technologie nicht. Schon Anfang der 2000er Jahre kam bei der Soft­wareentwicklung Automatisierungssoftware zum Einsatz. Die Qualität der Software wurde dabei durch das systematische Ausführen von Testfällen sichergestellt, die in Form von »Capture and Replay«-Makros aufgezeichnet und automatisiert (und damit schneller und ressourcenschonender) ausgeführt wurden. Dasselbe Prinzip liegt RPA-Lösungen zugrunde. Derzeit verfügen wenige RPA-Lösungen über intelligente Funkti­onen und sie lassen sich nur für einzelne Prozessteile einsetzen. Einfache Software- Roboter können oft unstrukturierte Daten (beispielsweise eine individuell verfasste E-Mail-Bestellung) nicht verarbeiten und sind nicht flexibel genug, sich automatisch an Änderungen anzupassen. Das macht den Einsatz von Software-Ingenieuren not­wendig, welche die Bots warten und Änderungen an der Programmierung vornehmen müssen. Dies kann unter Umständen den realisierten Zeitvorteil zunichtemachen, zumal sich die Wartung typischerweise ja nicht auf einen Roboter beschränkt, son­dern auf alle im Prozess zum Einsatz kommenden Roboter erstreckt.

Um fair zu bleiben: so simpel kommen RPA-Lösungen schon lange nicht mehr daher. Derzeit experimentieren Anbieter mit intelligenteren RPA-Lösun­gen, die deutlich weitreichendere Funktionen anbieten. Dazu gehören beispielsweise die Erfassung unstrukturierter Daten, intelligente Texterkennung (OCR), die Mög­lichkeit zur Workflow-Orchestrierung, der Einsatz künstlicher Intelligenz (Machine Learning), die Verfügbarkeit von Omni-Channel-Technologien sowie umfassende Analysewerkzeuge. Der Einsatz dieser, unter dem Stichwort RPA zusammengefassten Technologien beinhaltet fast immer auch eine Anpassung bzw. Änderung des beste­henden Prozesses, sei es die Erweiterung der Aus- und Eingabemöglichkeiten eines Softwareprogrammes, die Zusammenführung verschiedener Channel-Formate an einen Analyseort oder die inhaltliche Anpassung von Schnittstellen.

Die Einführung von Robotic Process Automation in den Unternehmensalltag ist sehr verführerisch. Unternehmen versprechen sich durch den Einsatz von RPA-Software zurecht schnelle ökonomische Vorteile. Zu den Vorteilen zählen unter anderem die in Abbildung 3 aufgeführten Vorzüge.

Abb. 3: Typische Vorteile von Robotic Process Automation; Quelle: Eigene Darstellung

Werden menschliche Arbeitskräfte überflüssig?

RPA ist ideal für Aufgaben, die keine menschliche Intervention (RPA 1.0) benötigen. Diese Aufgaben nennen wir »unbeaufsichtigt« oder »unattended« (Abbildung 4). Das sind typischerweise stark regelbasierte Prozessschritte mit hohem Wiederho­lungscharakter, die noch dazu sehr strukturiert und für Software-Augen (und unsere »Bots« sind ja nichts anderes als eine mehr oder weniger intelligente Softwarelösung) gut erkennbar und interpretierbar sind.

Abb. 4: Spektrum der RPA-Lösungen; Quelle: Eigene Darstellung

Eine Vielzahl von Aufgaben benötigt jedoch immer noch menschliche Unterstützung oder Interpretationsleistung. Diese Prozessschritte bezeichnen wir als beaufsichtigte Aufgaben (RPA 2.0) oder »attended tasks« (Abbildung 103). Beispiele dafür sind dem Kunden zugewandte Aktivitäten wie die IVR-Unterstützung[1] bei Customer-Service- Prozessen, unterstützende Chat-Bots auf Webseiten oder Handlungsvorschläge auf Basis von Handlungen oder Datenbeschaffungsvorgängen, die in der Vergangenheit getätigt wurden. Diese Aufgaben benötigen immer noch eine menschliche Führung. RPA-Bots füllen hierbei nur eine unterstützende Rolle aus, die dem ausführenden menschlichen Bearbeiter monotone und zeitraubende Routinevorgänge abnimmt.

RPA steht auch für den Einsatz künstlicher Intelligenz

Daneben existieren viele andere Tätigkeiten, die menschlicher Kopfarbeit bedürfen. Typischerweise sind dies komplexere, hochwertige Aufgaben, die für uns ohnehin intellektuell interessanter sind als reine Routinetätigkeiten. Diese Tätigkeiten fallen in die Kategorie rein manueller (»manual tasks«) Aufgaben, für die »noch« keine Automa­tisierung möglich ist. Sie sollten jetzt jedoch nicht beruhigt durchatmen und sich mit der Sichtweise entspannt zurücklehnen, dass menschliche Denkprozesse eben nicht durch »Maschinen« zu ersetzen sind. In der RPA-Community diktiert eine gänzlich konträre Denkweise das Handeln. Man experimentiert dort vielmehr mit ersten, zuge­gebenermaßen noch sehr eingeschränkten, KI-Lösungen (Künstliche Intelligenz), die den vollständigen Ausschluss menschlicher Handlungen (RPA 3.0 und RPA 4.0, siehe Abbildung 4) zum Ziel haben.

Der kluge Einsatz von RPA-Lösungen kann signifikante Kosteneinsparungen möglich machen

Untersuchungen[2] zeigen, dass der Einsatz von RPA an den richtigen Stellen im Pro­zess durchschnittliche Kostenersparnisse von 25 bis 65 % realisieren kann. Auch die teilweise rasanten Amortisationszeiträume[3] (oftmals hat sich eine RPA-Lösung bereits nach sechs bis neun Monaten amortisiert) zaubern so manchem Manager ein glückliches Lächeln ins Gesicht.

Natürlich sind diese Erfolgsgeschichten nur möglich in Prozessen, die ein hohes Transaktionsvolumen und einen gut strukturierten Prozessverlauf aufweisen. Mit »strukturiertem Prozessverlauf« sind Prozesse gemeint, die zwar alle Arten von Ein­schränkungen wie Medienbrüche oder inkompatible, nicht integrierte Anwendungen beheimaten können, aber immer wieder an denselben Stellen in Dokumenten, E-Mails oder Systemen Informationen verarbeiten. Ist hier keine Einheitlichkeit in der Infor­mationsstruktur gegeben, ist das selbst für menschliche Augen eine Herausforderung, für »Roboteraugen« jedoch noch ein K.o.-Kriterium. Zwar experimentieren führende RPA-Anbieter mit den bereits erwähnten KI-Softwarelösungen, um aus inkohärenten Informationen Zusammenhänge abzuleiten und die Intention des Kunden festzustel­len. Jedoch lassen sich diese »Piloten« aufgrund der recht hohen Fehlerquoten noch nicht sinnvoll betriebswirtschaftlich nutzen.

Die Anwendungsgebiete für RPA sind dabei so vielfältig wie die Prozesse selbst. Überall dort, wo strukturierte Prozesse stattfinden, kann RPA eingesetzt werden. Die Software- Roboter können Daten extrahieren, verändern und Berichte erstellen, Formulare aus­füllen, Daten kopieren, einfügen und verschieben, Informationen aus mehreren Syste­men und aus strukturierten Dokumenten lesen und verarbeiten oder E-Mails öffnen und Anhänge verarbeiten, um nur einige Anwendungsbeispiele zu nennen.

Braucht Prozessoptimierung überhaupt noch menschliche Mitarbeiter?

Bei allem Reiz, den diese neue Technologie versprüht, so birgt sie doch auch die Gefahr, uns träge zu machen und die eigentlichen Kernaufgaben kontinuierlicher Prozessverbesserung vergessen zu lassen. Erinnern wir uns, dass es sich bei RPA um eine non-invasive Technologie der Prozessoptimierung handelt. Der Prozess und alle mit ihm verbundenen Informationsträger und Systeme bleiben beim Einsatz von Bots unverändert. In anderen Worten, eine nachhaltige Verbesserung (Standardisierung von Dokumenten, Behebung von Medienbrüchen, Eliminierung von Fehl- und Blind­leistungen etc.) und damit eine echte Prozess-Weiterentwicklung findet nicht statt. Ein etwas salopp formulierter Vergleich wäre das Bild eines Patienten, der sich auf einer Krücke langsam vorwärtsbewegt und dem eine zweite Krücke an die Hand gege­ben wird, sodass er schneller laufen kann. Eine echte »gesundheitliche« Verbesserung wird man damit jedoch nicht erreichen.

Damit wird es in Zukunft noch mehr darauf ankommen Prozesse durch menschliche Bearbeiter auf eine Automatisierung vorzubereiten, noch genauer zwischen echter Verbesserung und Automatisierung zu unterscheiden und zu entscheiden an welchen Stellen sich der Einsatz von Automatisierungswerkzeugen amortisieren kann.

RPA treibt die Prozessdigitalisierung voran

Auf der Habenseite bewirkt RPA eine zusätzliche Digitalisierung der Prozesse, da anstelle menschlicher Interaktion ein digitaler Bot waltet. Ein Bot vermerkt u. a. sehr genau, zu welchem Zeitpunkt er einen Vorgang beginnt, welcher Art die von ihm aus­geführte Tätigkeit ist, wohin er die Information übertragen hat, wie lange er für den gesamten Vorgang gebraucht hat und welche Fehler dabei aufgetreten sind. Diese Informationen sind wichtig, um Fehler zu finden, aber auch, um Betrug oder andere Versuche, die Arbeit eines Roboters zu untergraben, zu erkennen. All diese Informa­tionen werden in entsprechenden Bot-Logfiles dokumentiert und stehen für weitere elektronische Auswertungen und Analysen zur Verfügung. Darüber hinaus finden diese Daten Anwendung in der Modellierung und Vorhersage zukünftigen Prozessverhaltens (beispielsweise durch Process Mining). Sie schließen Prozesslücken, meist an den Stellen, an denen menschliche Bearbeiter zuvor deutlich weniger Prozessdaten hinterlassen haben.

[1] Interactive Voice Response

[2] Weissenberg Group, www.weissenberg-solutions.de/was-ist-robotic-process-automation (Zugriff: 18.08.2019).

[3] Everest Group, Seizing the Robotic Process Automation (RPA) Market Opportunity, 2015.


im Fokus Kletterschuhe / Zerstört Olympia den Grundgedanken des Kletterns?

Zerstört Olympia den Grundgedanken des Kletterns?

Schlussendlich haben es Athleten und Funktionäre endlich geschafft. Klettern wird in die erlesene olympische Sportfamilie aufgenommen. Allerdings in Form eines kombinierten olympischen Formats bestehend aus den bekannteren Kletterformaten Bouldern und Lead-Klettern sowie eben der recht unbekannten, aber spektakuläreren Disziplin des Speedkletterns.

Speedklettern ist Klettern auf Testosteron

Was also ist Speedklettern und worum geht es dabei? Der Name ist Programm. Die Athleten müssen in kürzestmöglicher Zeit eine standardisierte Kletterwand von 10, 12 oder 15 Meter Höhe erklettern. Am Ende der Route ist ein Buzzer angebracht, den der Athlet bei Erreichen betätigen muss. Erst dann wird die Zeit gestoppt. Beim Start steht der Athlet auf einer Platte, die registriert ob ein Kontakt mit dem Athleten besteht oder nicht. Sobald der Kletterer die Füße an der Wand hat, und damit weg von der Bodenplatte, beginnt die Zeitmessung. Um das Format auch für Zuseher interessanter zu machen treten jeweils zwei Kletterer im KO-Modus gegeneinander an. Wer den Buzzer zuerst drückt hat gewonnen und ist eine Runde weiter. Dieser Modus zieht sich bis ins Finale. Um Fairness zu garantieren sind die Griffe und Routen überall auf der Welt exakt die Gleichen. Der Schwierigkeitsgrad der Route liegt nach UIAA-Skala bei einer 6+.

Anders als beim herkömmlichen Klettern, wo jedes Körperteil beim Pressen, Stemmen und Klemmen zum Einsatz kommen kann, darf beim Speedklettern die Wand nur mit Händen und Füßen berührt werden. Das macht neben höchster Präzision beim Treten und Greifen ein außerordentliches Maß an Maximal- und Schnellkraft erforderlich. Der Schwierigkeitsgrad der Route spielt dabei kaum eine Rolle, da die Herausforderung nicht in der Überwindung von Hindernissen sondern in der reinen Aufstiegsgeschwindigkeit liegt.

Spiegelt Speedklettern überhaupt noch die Grundidee des Kletterns wider?

Dieser fundamentale Unterschied zum herkömmlichen Klettern hat im Athletenlager, trotz aller Begeisterung für die Aufnahme ins olympische Programm, für Verstimmung gesorgt. Kritiker vergleichen das Format mit einem Langstreckenläufer, der gezwungen ist, auch die 100m Sprintstrecke zu laufen. Um mit Erfolgsaussichten bei der Olympiade antreten zu können müssen Athleten also einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Zeit auch dem Training für das Speedklettern opfern.

Der viel zu früh verstorbene österreichische Ausnahmekletterer und Bergsteiger David Lama hatte von Anfang an eine klare Meinung zu olympischem Klettern:

Solange man sich dessen bewusst ist, dass ein Wettkampf noch nie die Grundidee des Kletterns widergespiegelt hat und nie widerspiegeln kann, ist es weder gut noch schlecht. Es ist schlicht und einfach egal. (…) Müsste ich persönlich die Entscheidung treffen, würde ich mich aber klar gegen die Olympischen Spiele aussprechen.

Auffallend ist ohnehin wie viele Kletterer vom Geist und Gedanken des Kletterns sprechen und Speedklettern bewusst davon ausnehmen. Übrigens liegt der Weltrekord der Frauen bei 7,32 Sekunden, bei den Männern bei 5,48 Sekunden.


Lenkrad und Mittelkonsole eines alten Autos / Prozesse: Der Schlüssel zu autonomen Fahren

Prozesse: der Schlüssel zu autonomen Fahren

Nun stellt sich die Frage, was Prozesse mit autonomem Fahren überhaupt zu tun haben. Was sich vielleicht nicht direkt auf den ersten Blick erschließt, ergibt sich bei näherer Betrachtung ganz von allein. Auch wenn Automobilhersteller momentan ihr Augenmerk noch überwiegend auf technische, juristische und ethische Aspekte richten, bedeutet autonomes Fahren, Daten in Echtzeit empfangen, verarbeiten und übertragen zu können. Diese Aufgabe übernehmen Prozesse, die gewährleisten, dass ein Fahrzeug sicher und regelkonform vollautonom vom Ausgangs- zum Zielpunkt bewegt werden kann. Diese elementare und einfache Wahrheit geht zurzeit leider im Getöse rund um den Technik-Hype vollautomatisierten Fahrens unter.

Vollautonomes Fahren ist zurzeit noch eine Utopie

Wie weit wir aktuell noch von vollautomatisierter Fortbewegung entfernt sind, zeigt uns Abbildung 1. Die allermeisten Serienfahrzeuge lassen sich wohl unstrittig mit Merkmalen teilautomatisierten Fahrens (also Phase 2) beschreiben.


Abb. 1: Fünf Stufen bis zum vollautonomen Fahren

Prozesse sind die Nabelschnur, die vollautonome Fahrzeuge mit dem Füttern, was sie am dringendsten brauchen: Informationen. Vor allem anderen ist es deshalb notwendig, dauerhaft stabil arbeitende und nonstop verfügbare Prozesse zu gewährleisten. Nonstop-Verfügbarkeit bedeutet eine hundertprozentige Verfügbarkeit ohne eine einzige Sekunde an Ausfallzeit. Dies gilt nicht nur für einen Prozessschritt, ein System, einen Computer, sondern für eine Verkettung von Prozessen, die lebensnotwendige Informationen bereitstellen. Zum Vergleich: Eine Verfügbarkeit von 99,99 % bedeutet immer noch, auf ein Jahr gerechnet, eine Ausfallzeit von 52 Minuten. Zeit die wir, für einen Prozess, der im Millisekunden Bereich existenzielle Entscheidungen treffen muss, nicht haben. Natürlich können Systeme und Computer versagen. Sie werden von Menschen gebaut und sind damit per se fehlerbehaftet. Das bedeutet aber auch, dass Systeme und Prozesse hochredundant (ausfallsicher) ausgelegt werden müssen. Zudem müssen sie mit Katastrophen wie Gewittern, schweren Stürmen, Überschwemmungen oder Bränden einschränkungslos verfahren können.

Überlassen wir zukünftig einer Maschine die Entscheidung über Leben und Tod?

Wenn wir nun unser Leben einem automatisiert fahrenden Fahrzeug anvertrauen, machen wir uns also in hohem Maße von der eingesetzten Technik abhängig. Wir vertrauen ihr unser Leben an. Und nicht nur das. Wir vertrauen uns darüber hinaus Algorithmen an, die an unser statt, innerhalb eines Wimpernschlags, Entscheidungen treffen. Womöglich auch über Leben und Tod. Der Algorithmus beurteilt Verkehrssituationen und »berechnet« die bestmögliche Entscheidung. Soll dem Kind ausgewichen werden, das noch ein produktives Erwerbsleben vor sich hat, oder dem alten Mann, der nichts mehr zur gesellschaftlichen Produktivität beiträgt? Eine hochrangige Managerin eines Automobilzulieferers brachte dieses moralische Dilemma in einem unserer Gespräche auf den Punkt.

»Wir wissen heute noch überhaupt nicht, wie wir damit umgehen sollen, einem Algorithmus eine Entscheidung über Leben und Tod anzuvertrauen. Nach welchen Kriterien soll er die Situation bewerten? Wie bringen wir unsere Entwickler moralisch dazu, einen solchen Algorithmus zu entwickeln?«

Autonomes Fahren ist ständig beides: Prozessoptimierung und maschinelles Lernen

Beim autonomen Fahren kulminieren viele Aspekte der Digitalisierung wie die Vollautomatisierung von Prozessen, das Echtzeit-Datenmanagement, eine Nonstop-Prozess- und Technikverfügbarkeit sowie die Ermächtigung von Algorithmen. Autonomes Fahren demonstriert auf hervorragende Art und Weise die Anforderungen, die an die nächste Generation der Prozessoptimierung gestellt werden. Klassische Prozessoptimierung verliert in einem vollautomatisierten Prozess ihre Bedeutung. Vielmehr stellt die Verlagerung von Prozessen in eine vollständig autark ablaufende digitale Welt, außerhalb unserer Alltagserfahrungen und Beobachtungen, andere Ansprüche an zukünftige Optimierungsansätze. Prozessoptimierung wird gezwungen sein, zukünftig ebenfalls in digitaler Gestalt aufzutreten, um überhaupt Analysen eines Prozesses durchführen zu können. Ansätze wie das Process Mining werden in dieser Welt deutlich an Bedeutung gewinnen. Schlussendlich ist autonomes Fahren aber auch ein Paradebeispiel für den Einsatz und Umgang mitdenkender und sich selbst weiterentwickelnder Algorithmen.


Geschwindigkeitsanzeige Auto / Warum Organisationen ein neues Effizienzdenken brauchen

Warum Organisationen ein neues Effizienzdenken brauchen

In einer Zeit, in der Informationen oft in Millisekunden den Erdball mehrfach umrunden können, braucht es schnelle und agile Formen der Zusammenarbeit. Undenkbar eigentlich, dass die meisten Organisationen immer noch in hierarchische Strukturen eingebettet arbeiten, und oftmals nach wie vor langwierige Entscheidungswege pflegen. Auf diese Wiese Zusammenarbeit zu gestalten stellt einen fundamentalen Wettbewerbsnachteil in einer Welt dar, die diejenigen begünstigt die schnell und unkompliziert die Bedürfnisse ihrer Kunden adressieren können. Mehr als je zuvor sind Kunden in der Lage unterschiedliche Produkte miteinander zu vergleichen und zu bewerten.

Kaufentscheidungen werden durch die Geschwindigkeit definiert, mit der die Kundenwünsche durch das Unternehmen transportiert und bearbeitet werden

Die Geschwindigkeit, mit der die Wünsche des Kunden die Unternehmensprozesse durchlaufen, Experten sprechen dabei von der „Flusseffizienz[1]“, haben immer größeren Anteil an der Kaufentscheidung und sind Voraussetzung für eine Wiederkehr des Kunden. Laut einer Studie des Technologiedienstleisters Manhattan Associates ist für 54% der Deutschen die Liefergeschwindigkeit, also die Durchlaufzeit von der Bestellung bis zur Auslieferung, ein wesentlicher Faktor bei ihrer Kaufentscheidung. Dieser besonders unter Millennials ausgeprägte Trend wird durch das Kaufverhalten der Generation Z weiter befeuert.

Ressourceneffizienz vs. Flusseffizienz – Organisationen steht ein Paradigmenwechsel bevor

Unternehmen mit stramm hierarchisch-orientierter Aufbauorganisation „pflegen“ klare Wettbewerbsnachteile. Zu den langen Entscheidungswegen kommen oft langwierige Abstimmungen an Bereichsgrenzen, den Schnittstellen klassischer Aufbauorganisationen, hinzu. Weitaus schwerer wiegt aber das klassische Effizienz(miss-)verständnis.

In traditionellen Organisationen leitet sich Effizienz aus einer möglichst umfassenden Auslastung der eingesetzten Ressourcen ab. Mitarbeiter und Maschinen die nicht „vollausgelastet“ sind, verursachen der Organisation „Kosten“ (sogenannte Leerlaufkosten) und müssen nach allgemeinem betriebswirtschaftlichem Verständnis rationalisiert, also eingespart werden. Wir sprechen hierbei von Ressourceneffizienz.

Eine gänzlich andere Sichtweise bietet da moderne Prozessorientierung an. Von Interesse ist hier nicht die Auslastung einzelner Ressourcen (Maschinen oder Personen), sondern vielmehr die Tatsache, dass Leistungen und Produkte (der Einfachheit halber bezeichnen wir beides nachfolgend einfach als Working Item) möglichst im (Prozess-)Fluss bleiben. Wartezeiten oder die Zwischenlagerung von Working Items sowie jede andere Form der Prozessunterbrechung reduzieren die Geschwindigkeit mit der ein Working Item (und damit ganz nebenbei die Wünsche eines Kunden) im Prozess verarbeitet wird. Das Ziel ist, das Working Item stetig in Bewegung zu halten, im Fluss zu bleiben. Wir sprechen hierbei passenderweise von Flusseffizienz. Abgeleitet wird die Flusseffizienz aus dem Verhältnis reiner Bearbeitungszeit (also tatsächlicher Wertschöpfung) zur gesamten Durchlaufzeit (bspw. Bestellung bis Auslieferung).

Mit dem nachfolgenden Beispiel lässt sich der Unterschied zwischen Ressourcen- und Flusseffizienz sehr plakativ illustrieren:

Der Weltrekord der 4x100m Staffel der Frauen liegt bei etwas über 40s, d.h. jede Läuferin benötigt für ihre 100 Meter ca. 10s. In einer 4x100m-Staffel ist damit jede Läuferin nur zu 25% ausgelastet. Schließlich benötigt jede Läuferin nur ca. 10 von insgesamt 40 Sekunden. Das Staffelholz ist im Idealfall, d.h. wenn niemand es fallen lässt, ständig in Bewegung. Somit summiert sich die Bearbeitungszeit aus vier einzelnen Läufen über je 10 Sekunden zu 40 Sekunden Gesamtlaufzeit. In einem idealen Staffellauf, in dem das Staffelholz nicht herunterfällt, entspricht die Durchlaufzeit exakt der Bearbeitungszeit. Die Flusseffizienz liegt bei 100% (40s Bearbeitungszeit zu 40s Durchlaufzeit) bei einer Ressourceneffizienz der einzelnen Läuferinnen von „bescheidenen“ 25%.

Anders formuliert wird das Working Item (Staffelholz) ohne Verzögerung auf dem schnellsten Weg durch die Produktion geschleust und das bei einer Ressourcenauslastung von nur 25%! Niemand käme in diesem Fall auch nur ansatzweise auf den absurden Gedanken alle Mitglieder der Damenstaffel die volle Distanz, dann wäre nämlich die Ressourceneffizienz bei 100%, laufen zu lassen oder gar in den lauffreien Zeiten auf der Tribüne Getränke an die Zuschauer auszuschenken. Die Läuferinnen erhalten vielmehr die Zeit sich voll auf den optimalen Transport des Staffelholzes (Working Item) zu konzentrieren und eine höchstmögliche Flusseffizienz zu gewährleisten.

Flusseffizienz steht für eine neue Führungskultur

Ressourcen- und Flusseffizienz stehen für grundlegend gegensätzliche Sichtweisen, die für eine Organisation nicht ohne Konflikt auflösbar sind. Hierarchisch ausgerichtete Organisationen werden an einer betriebswirtschaftlich institutionalisierten Form der Ressourcenauslastung festhalten. Es werden Kontrollsysteme aufgebaut deren einzige Aufgabe im Aufspüren von „Ineffizienzen“, also nicht ausgelasteten Ressourcen, besteht. Organisationen produzieren auf diese Weise physische Engpässe, da sie bewusst und unbewusst ihr Handeln danach ausrichten. Beispielsweise werden teure Maschinen bevorzugt nur dann betrieben, wenn sie voll ausgelastet werden können. So wird mit dem Betrieb der Maschine gewartet bis die maximal mögliche Anzahl von Working Items erreicht ist. An anderen Stellen im Prozess werden sich Working Items stapeln, transportiert und zwischengelagert werden, weil nachfolgende Arbeitsschritte nicht immer mit der gleichen Geschwindigkeit oder Ressourcenkapazität ausgeführt werden können. Das Streben nach Ressourceneffizienz erzeugt im Prozess steigende Umlaufbeständige und Engpässe, die zwangsläufig zu immer wieder neuen Optimierungsprojekten führen müssen.

Gelebte Flusseffizienz zwingt jedoch eine Organisation zu zentralen Zugeständnissen und damit letztlich Veränderungen (Evolution). Wie wir am Beispiel der 4x100m Staffel erkennen konnten ist eine notwendige Voraussetzung, den Läuferinnen (Mitarbeitern) Freiräume zuzugestehen den Prozessfluss bestmöglich zu unterstützen. Ob das nun Überschuss-Ressourcen zur Vermeidung von Engpässen sind oder einfach Zeit, um Prozessprobleme zu analysieren und neue Ideen zu entwickeln. Müßige Zeit ist ein entscheidender Faktor den Prozessfluss am Laufen zu halten und ständig zu optimieren. Dazu gehört es aber auch Entscheidungen dort zu treffen, wo sie anfallen und das fachliche Know-How für die Lösungsfindung vorhanden ist: unter den Mitarbeitern, die den Prozess betreiben und in ihm (und an ihm) arbeiten.

Diese Rückdelegation von Entscheidungs(voll-)macht kann nur gelingen in dem die Organisation Eigenverantwortung und Selbstorganisation stärkt und ihr Führungsverhalten verändert. Nicht mehr Kontrolle ist das vorherrschende Paradigma, sondern die Fähigkeit der Führungskräfte Probleme und Hindernisse, denen die Mitarbeiter begegnen aus dem Weg zu räumen. Die Führungskraft entwickelt sich zum „Enabler“ und Wegbereiter, zum „Servant Leader“.

[1] Verhältnis der reinen Bearbeitungszeit zur Durchlaufzeit (Ende-zu-Ende)


Auf einer Autoarmatur liegt eine Landkarte und weiter hinten ein Sonnenhut, im Hintergrund ist eine Straße erkennbar / Mit uns arbeiten

Rule Britannia – Als Prozesse die Welt beherrschten

Das britische Empire war das größte Kolonialreich der Weltgeschichte. Zur Zeit seiner größten Ausdehnung, das war im Jahr 1922, erstreckte es sich über eine Fläche von ca. 33,67 Millionen km², was einem Viertel der Landfläche der Erde entspricht. Mit etwa 458 Millionen Einwohnern umfasste es ebenfalls ein Viertel der damaligen Weltbevölkerung.[1] Wie konnten die damals rund 44,3 Millionen Einwohner des Vereinigten Königreichs[2] über mehr als zehnmal so viele Menschen herrschen, die auf dem ganzen Erdball verteilt waren, Hunderte Sprachen und Dialekte sprachen und den unterschiedlichsten Kulturstufen angehörten? Historiker sind sich weitgehend einig, dass dies nicht etwa an einer übermenschlichen Kampfkraft der britischen Truppen lag. Es lag vielmehr am Organisationsgrad des britischen Weltreichs, der zur damaligen Zeit einzigartig war. Im Mutterland der Industrialisierung wusste man, dass in der anbrechenden Moderne nichts mächtiger sein würde als ein gut durchdachtes, funktionierendes System, dessen Regeln sich Menschen mit größter Disziplin unterwerfen. In Indien, Afrika oder der Südsee dachte so noch niemand, weshalb die Menschen dort kaum eine Chance hatten, ihre Unabhängigkeit gegen die britische Eroberungs-, Kultivierungs- und Verwaltungsmaschinerie zu verteidigen.

Prozessorientierung schafft viele Vorteile und beschert Unternehmen Dominanz: Erleben wir eine neue Form des Kolonialismus?

Wir leben heute in einer durchaus vergleichbaren Situation. Unternehmen, die ihre Prozesse beherrschen, haben den Schlüssel in der Hand, sich beliebig zu verändern und anzupassen und ihr Business im globalen Maßstab nahezu unbegrenzt nach oben zu skalieren. Amazon und andere Schwergewichte der amerikanischen Westküste machen dies vor, indem sie immer weiterwachsen und ein Geschäftsfeld nach dem anderen erschließen. Die Corona-Pandemie hat diesen Veränderungsprozess sogar noch beschleunigt, entwickelten bis dahin viele onlineshopping-fremde Zielgruppen zwangsweise ein neues digitales Einkaufsverhalten.

Zahlreiche Unternehmen auf der Welt, die ihre Prozesse nicht im selben Maß beherrschen, scheinen gegenüber diesen wirtschaftlichen Riesen (die interessanterweise in der öffentlichen Diskussion zuweilen ausdrücklich mit Kolonialherren verglichen werden) keine Chance zu haben, weil ihnen der entscheidende Schlüssel zur Transformation noch weitgehend fremd ist. So treibt etwa Amazon praktisch immer noch die gesamte Logistikbranche vor sich her, weil das Unternehmen so prozessorientiert – und damit effizient, effektiv, kundenorientiert, skalierbar und flexibel – denkt und handelt.

Was können wir heute aus der Geschichte lernen?

Knapp hundert Jahre später, nachdem britische Findigkeit und kommerzieller Pragmatismus aus einer kleinen europäischen Inselgruppe das bis zum heutigen Tage größte koloniale Weltreich geschaffen hatten, scheint der wahre Schlüssel britischer Dominanz für viele Unternehmen nach wie vor im Dunkel der Geschichte verborgen zu liegen. War die Royal Navy der Garant für die Erschaffung des Empire, so waren es die unzähligen großen und kleinen Verwaltungsprozesse - ein klares Bekenntnis zu Rollen, Regeln, Verantwortlichkeiten und Abläufen, die seine Existenz sicherten und es aufrecht erhielten.

Diese an sich einfache Wahrheit haben zahlreiche Unternehmen noch immer nicht für sich entdeckt.

Es ist wahr, Unternehmen sind sich ihrer Prozesse durchaus bewusst und pflegen diese auch mehr oder weniger. Näher betrachtet verliert sich jedoch die Steuerung dieser Prozesse meist im Dickicht einer bereichsorientierten Aufbauorganisation. Hier gelten Bereichsziele mehr als Prozessergebnisse. Dementsprechend bescheiden fällt die Prozessorientierung aus.

Organisationen, denen es gelingt, Bereichsdenken abzuschaffen und an deren Stelle gemeinsame Prozessziele zu stellen, werden immer öfter das volle Potential ihrer Wertschöpfungskette abrufen und rascher und innovativer auf zukünftige Veränderungen reagieren.

 

[1]    Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Britisches_Weltreich (Zugriff: 18.06.2017).

[2]    http://www.populstat.info/Europe/unkingdc.htm (Zugriff: 18.06.2017).