Warum Hierarchie nicht mit Komplexität umgehen kann

September 24, 2020 Rupert Hierzer

Mittlerweile ist das ein Teil unseres Arbeitsalltags: Führungskräfte sind hoffnungslos überlastet. Jede Entscheidung die mehr Koordination und eine vom Alltag abweichende Sichtweise erfordert, muss von ihnen genehmigt werden. In hierarchischen Organisationen laufen die Reporting-Wege nur an der Spitze zusammen. Sehr oft stehen Führungskräften dafür nur wenige oder sehr stark verschlankte Informationen und Fakten zur Verfügung. Kein Wunder also, dass sich viele Führungskräfte bei dieser Form der Entscheidungsfindung unsicher und ängstlich fühlen. Wie Arbeiter am Fließband müssen sie irgendeine Entscheidung treffen und die nächste Entscheidung wartet bereits. Kommen sie dabei in Verzug droht dem Unternehmen der Stillstand. Es ist daher wenig überraschend, dass Führungskräfte die am stärksten unter Burnout[1] leidende Berufsgruppe stellen. Gemessen an Arbeitsunfähigkeitstagen aufgrund einer Burnout-Erkrankung liegen Führungskräfte mit durchschnittlich 50% mehr Ausfalltagen deutlich vor jeder anderen Berufsgruppe.

Der Engpass an der Unternehmensspitze macht die Zeit von Führungskräften so kostbar, dass sich Mitarbeiter oft wochenlang auf eine kurze Präsentation vorbereiten. Zahlreiche drängende Entscheidungen bekommen aber nie einen Termin und werden deshalb auch nicht getroffen. Andere, an der Spitze getroffene Entscheidungen, erweisen sich als schlecht oder sogar schädlich. Dabei spielen politische Überlegungen ebenso eine Rolle wie Unkenntnis der operativen Geschehnisse und Bedürfnisse vor Ort.

In einer zunehmend komplexeren Welt wird die Hierarchie zu einem Engpass. Selbst wenn die Führungskräfte noch mehr Zeit investieren, das Problem kann nicht durch Arbeitszeit gelöst werden. Es handelt sich vielmehr um ein strukturelles Problem.

Was also sind die Alternativen?

Die Lösung umgibt uns bereits! Alle adaptiven komplexen Systeme[2] – davon gibt es einige[3] – arbeiten nach einer Struktur der verteilten Autorität. Kein einziges komplexes System arbeitet mit hierarchischen Strukturen. In der Evolution solcher Systeme hat sich gezeigt, dass Hierarchie zunehmender Komplexität nicht standhält.

Die hierarchische Organisation hat ausgedient

Hierarchische, leistungsorientierte Organisationen sind in einem mehr oder weniger starren System von Regeln, Vorschriften, Verantwortlichkeiten, Abläufen und Rollen gefangen. Sie arbeiten seit jeher mit den immer gleichen wiederkehrenden Lösungsstrategien, unabhängig von der Art des Problems. Die antrainierten Reflexe, komplexe und völlig neuartige Probleme – in deren Lösung die Organisation keine belegte Erfahrung hat – mit Denkweisen und Lösungsstrategien, die sich in der Vergangenheit bewährt haben, zu begegnen führt immer häufiger zu ungelösten Problemsituationen.

Diese an und für sich schon nicht sehr erfreuliche Perspektive wird durch neue, sich stetig verändernde, Erwartungshaltungen weiter verschärft. Branchenunabhängig werden Unternehmen mit Anforderungen nach kürzeren Durchlaufzeiten, höherer Kundennähe, zunehmenden Produktvielfalt, kurzlebigeren Produktentwicklungszyklen konfrontiert. Damit einhergehend steigt der Innovationsdruck auf die Unternehmen und die Notwendigkeit einer wachsenden digitalen Aufrüstung gewinnt tagtäglich an Dringlichkeit. Jede einzelne dieser Anforderungen stellt die meisten Organisationen bereits vor große Herausforderungen.

Die Kombination dieser Entwicklungen führt jedoch zu einem teilweise dramatischen Komplexitätsanstieg, der für viele Unternehmen, mit herkömmlichen Lösungs- und Denkansätzen, nicht mehr beherrschbar ist.

Unternehmensentwicklung bedeutet vor allem eines: Krisenbewältigung

Letztendlich werden diese Anforderungen an die Unternehmensprozesse herangetragen, die dadurch immer stärker in Konflikt mit ihrer hierarchisch ausgerichteten Aufbauorganisation kommen. Warum? Hierarchische, arbeitsteilige und nach Leistungsprinzipien geführte Organisationen können den sich stetig verschärfenden Konflikt, immer mehr Entscheidungen in immer kürzerer Zeit zu treffen und die notwendigen Anpassungen an unternehmensweiten Wertschöpfungsketten vorzunehmen, nicht mehr auflösen. Eine teilweise existentielle Krise ist damit vorprogrammiert.

Das vorherrschende System kann die Probleme, die zu dieser Krise geführt haben, nicht mehr lösen. Unternehmen, die vor einer solchen Herausforderung stehen, bieten sich zwei Herangehensweisen: Das Unternehmen kann versuchen das Problem weiterhin zu ignorieren (das geht dann oftmals mit dramatischen Kostensenkungs- und Rationalisierungsprogrammen einher) oder versuchen in eine neue komplexere Perspektive hineinzuwachsen, welche der Organisation neue Lösungen für das Problem eröffnet.

Prozesse erwirtschaften die Erlöse, die Aufbauorganisation verwaltet die Kosten

Gewöhnen wir uns ruhig an den Gedanken: Die Prozesse erwirtschaften die Erlöse, die Aufbauorganisation verwaltet die Kosten. Dieser Gedanke trägt immense Sprengkraft in sich, folgen doch zwei wesentliche Einsichten daraus:

Erstens braucht es einen Paradigmenwechsel, in dem die Organisation nicht mehr mit sich selbst beschäftigt ist und sich an Kostenstrukturen abarbeitet, sondern sich verstärkt an den Prozessen ausrichtet. Zweitens liegt der Gedanke nahe, dass dieser Konflikt sich letztlich nur durch eine Weiterentwicklung der Organisation auf eine neue Evolutionsstufe auflösen lässt. Die in solch einer zukünftigen Organisation vorherrschenden Leitbilder werden vorwiegend Eigenverantwortung, Selbstorganisation, individuelle Entfaltung, ein neues Selbstverständnis von Führung und Selbstverwirklichung sein. Mit diesen Zutaten wird es möglich, Entscheidungen dort zu treffen, wo sie operativ entstehen, brachliegendes kreatives Potential zu nutzen und schnell und flexibel auf Veränderungen zu reagieren. Die Hierarchie wird an Bedeutung verlieren.

Aber eines ist auch klar. Für Veränderung gibt es keinen Blueprint, kein Template. Viel zu oft versuchen Unternehmen Veränderungen in ein Projekt mit begrenzter Laufzeit und vorgegebener Zielrichtung zu pressen. Ebenfalls sehr beliebt ist der Versuch Veränderungen durch Einführung neuer Tools oder Methoden gar zu erzwingen. Die schlechte Nachricht ist, so funktionieren Veränderungsprozesse nun mal nicht. Veränderung ist für jedes System (und Ein Unternehmen ist ein solches) ein individueller und stetiger Prozess.

Die simple Antwort ist einfach der Organisationen die nächste Methode, das nächste Tool überzustülpen. Etwas salopper formuliert: „Wieder einmal die nächste Sau durchs Dorf zu treiben.“ In vielen Fällen ein Scheitern mit Ansage.

Wenn Eigenverantwortung und Selbstorganisation in einer Organisation zunehmen, werden zwangsläufig die Prozesse gestärkt

Was also können Unternehmen tun? Wo können sie mit der Veränderung beginnen? Es existieren meist so viele Möglichkeiten Veränderungen herbei zu führen, dass einige Organisationen bloß durch die Beantwortung dieser Frage in ihren Handlungen gelähmt werden. Der Wirtschaftsexperte und Management Vordenker Peter Drucker hat dazu einmal gesagt

»Culture eats strategy for breakfast.«

Übertragen auf die Frage, wo Unternehmen mit Veränderung beginnen sollen, bedeutet das auf die inneren Stimmen der Organisation zu hören: Für welche Veränderung existiert die meiste Energie im Unternehmen? Wo gibt es blockierte Energien? Für die einen ist das die Verkürzung überdehnter und langwieriger Entscheidungswege, beispielsweise den Mitarbeitern das Vertrauen auszusprechen selbst Entscheidungen treffen zu können. Für andere mögen es sinnstiftende Arbeiten sein oder durch Mitarbeit an einer großen Aufgabe an Bedeutung zu gewinnen. Freundet man sich mit der Vorstellung an, dass Veränderung als mehr oder weniger kontinuierlicher, stetiger Prozess abläuft, ist es schließlich bedeutungslos, wo man beginnt. Wichtig ist nur, dass Veränderung mehr Energie freisetzen muss als dafür aufgewendet wird. Ähnlich einem Schneeball, der zunächst unscheinbar und langsam den Berg hinunterrollt und dabei immer schneller und größer wird.

Klingt einfach! Warum folgen dann so wenige Organisationen diesem Ansatz? Hierarchische Unternehmen sind traditionell stark auf die Vorgabe von Zielen und deren Kontrolle ausgerichtet. In diesen Organisationen ist dieses Denken stark kulturell verankert und verhindert dadurch reflexartig jede nicht sofort auf ein vorgegebenes und autorisiertes Ziel ausgerichtete Veränderung. Für viele Unternehmen hat das eher eine chaotische und anarchische Anmutung.

Verschwindet die Hierarchie treten die Prozesse in den Vordergrund

Was aber geschieht in Organisationen, die den Einfluss ihrer Aufbauorganisation relativieren, in denen Mitarbeiter mehr und mehr die Verantwortung übernehmen? Spielen wir den Gedanken einmal an einem Extrembeispiel durch. Wir entfernen in unserem Beispielunternehmen die Aufbauorganisation. Mitarbeiter machen einfach das was sie auch vorher gemacht haben, nur dass sie nun ihre Entscheidungen selbst treffen und dafür verantwortlich sind. In dieser Organisation wird sich nun jeder Mitarbeiter vielmehr daran orientieren wer ihm zuarbeitet und an wen er wiederum seine Zuarbeit richtet. Der Ablauf der Wertschöpfung gewinnt an Bedeutung. Die Prozesssicht wird gestärkt und auch das Bewusstsein für das Ergebnis des Prozesses gemeinsam verantwortlich zu sein.

Fazit

Unternehmen haben sich so sehr an ihre Sesshaftigkeit gewöhnt, dass sie angefangen haben Unbeweglichkeit mit Sicherheit zu verwechseln. Dabei liegt es in der Natur des Menschen in Bewegung zu bleiben und sich zu verändern, wenn es an der Zeit ist.

Das soll nun kein Plädoyer für die Abschaffung der Aufbauorganisation sein, vielmehr eine Anregung ihr eine andere Ausrichtung zu geben: Weg von Kontrolle, hin zu Vertrauen und Selbstverantwortung.

Nur Organisationen, die es zustande bringen diesen nächsten Evolutionsschritt zu gehen, wird es gelingen das volle Potential ihrer Wertschöpfungskette abzurufen und auf zukünftige Veränderungen schnell und resilient zu reagieren.

[3] Beispiele für adaptive komplexe Systeme: Biosphäre, Ameisenkolonien, Ökosystem, Gehirn, Immunsystem, Zellen

  Geschrieben von

In seiner Arbeit schätzt Rupert vor allem das notwendige Brückenbauen: Eine Verbindung zwischen Altem und Neuem herzustellen, Veränderung zu initiieren und Menschen auf diesem Weg zu begleiten. Für ihn ist Entwicklung die aufrichtigste Form der Beratung. Rupert ist davon überzeugt, dass Veränderung notwendig ist, um Wachstum und Fortschritt zu ermöglichen. Seine Arbeit dreht sich darum, Menschen zu ermutigen, alte Denkmuster zu überwinden und neue Wege zu beschreiten.

Success message!
Warning message!
Error message!